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Theobald hatte das Frühstück verpasst und so irrte er kurz vor Kursbeginn durch das Kloster. Als Frau Mallwitz nach dem Gespräch mit Spes Unica in die Küche kam, fand sie ihn dort vor, auf der Suche nach Kaffee und etwas Essbarem.
Er murmelte, er wolle sich ein Brot schmieren und fragte, wo die Tassen seien. Frau Mallwitz schaute ihn an wie einen Marsmenschen. Theobald schaute zurück. Wieso antwortete sie nicht? Er machte ein paar Schritte und sah sich suchend um. „Und?“, fragte er, hob die Thermoskanne hoch und schwenkte sie. „Ist ja sogar noch was drin.“
Frau Mallwitz kam auf ihn zu, nahm ihm die Kanne ab und stellte sie mit einem Ruck wieder hin.
„Hier ist keine Selbstbedienung. Frühstück gibt es um halb acht, seien Sie gefälligst pünktlich“, sagte sie verärgert.
„Aber da ist doch noch was drin“, begehrte Theobald auf, er war hier schließlich Gast, oder was! Warum sah die ihn überhaupt so griesgrämig an? Frau Mallwitz holte tief Luft, nahm eine Tasse, goss ihm ein, gab ein Stück Kuchen dazu, der aussah als sei er von gestern; für diesen komischen Kauz war er gut genug. Diesen unchristlichen Gedanken würde sie beichten müssen. Sie seufzte.
Theobald ergriff Tasse und Teller, sagte nicht Danke und ging, in Gedanken schon bei einer Geschichte, in der eine Frau ein merkwürdiges Schicksal ereilte, weil sie zu den falschen Leuten pampig war.
Roland, Makler aus Begeisterung, machte auch einen Gang über das Gelände, um sich Gebäude, Gärten und sonstige Flächen genauer anzusehen. Bisher kannte er nur die Website des Klosters und das Kaufexposé, aber gleich gestern hatte er erkennen können, dass in natura alles viel schöner war. Es war geradezu herrlich, ein Juwel. Er persönlich würde ein paar Dinge ändern. Anstelle des Gemüsegartens ein kleiner Teich mit Sitzgruppe und Baum, am Waldrand eine Sauna, die Parkplätze mit Büschen kaschieren … ja, doch, hier ließe sich eine Menge draus machen.
Da lief ihm Frau Zacharias über den Weg. Zu seinem Erstaunen schien sie sich ertappt zu fühlen. Sie verbarg etwas unter ihrer Schürze. „Was für eine schöne Anlage“, sagte er und versuchte zu erkennen, was es war.
„Ja, in der Tat“, sagte Frau Zacharias und wollte an ihm vorbei, ohne ihm nahezukommen, aber er stellte sich mitten in den Weg.
„Ihre Oberin hat sich ja viel vorgenommen. Ob es nicht doch klüger wäre, zu verkaufen? Es wäre ein gutes Geschäft für Ihren Orden.“
„Nun, die Generaloberin und Mutter Spes Unica sind keine Träumerinnen. Ein Haus wie dieses hat eine Aufgabe, deren Nutzen sich nicht in Geld bemisst. Es ist sinnvoll, ein Kloster nach Möglichkeit zu erhalten und erst dann zu verkaufen, wenn gar nichts mehr geht.“
„Das könnt ihr euch nur leisten, weil ihr von Steuergeldern lebt. Müsstet ihr euch so finanzieren wie alle anderen Vereine auch, nämlich über Mitgliedsbeiträge und Spenden, ginge das nicht.“
„Sie sagen das, als wäre es etwas Schlechtes“, erwiderte Frau Zacharias, während sie sich an ihm vorbeistahl, und er meinte, einen Hauch von Zigarette zu riechen, es konnte aber auch sein, dass seine Sinne ihn täuschten; er hatte leichte Entzugserscheinungen, denn hier war Rauchen verboten.
„Wir hingegen sind dankbar, dass die Gesellschaft bereit ist, für die Förderung von geistlichen Werten zu zahlen.“
Dazu fiel Roland nichts ein. Das kleine Gespräch hatte die unausgesprochene Botschaft, dass die Kirche und die Ordensleitung bereit waren, bis zu einem gewissen Maß hier auch ein Verlustgeschäft mitzutragen, rein der Sache wegen. Aus seiner Sicht unwirtschaftlich und dumm, aber ein Faktum.
Inger, Helene, Franz und Franzi waren nicht mehr umhergeschweift, sondern voller Tatendrang gleich in den Seminarraum gegangen.
Inger hatte als Thema für den zweiten Tag den Himmel gewählt und hängte an den Stellwänden Fotos vom Himmel zu jeder Tages- und Nachtzeit auf, von Gemälden mit viel Himmel und in die Mitte des Flipcharts schrieb er in Druckbuchstaben HIMMEL.
Babette hatte leichte Kopfschmerzen. Diese Wandervögel hielten keine Sekunde lang ihre Schnäbel. Jetzt gerade hatten sie es auf Helene abgesehen. Was sie schreibe, und warum und was sie sonst so mache. Deutsch als Fremdsprache unterrichten, „ei wärglisch“, ach, damit hätten sie auch zu tun, rief Franzi aus, sie arbeiteten in Jugendeinrichtungen, da müsse auch immer mal der eine oder die andere Deutsch lernen, und so seien sie auch zum Schreiben gekommen. Es gebe ja keine guten Bücher für Jugendliche, die im Lesen allenfalls Grundschulniveau hätten, aber nach altersgemäßen Inhalten verlangten, dozierte nun Franz. Helene hatte Ähnliches bei Erwachsenen bemerkt: Es fehlte an Sachtexten für Erwachsene, die Deutsch erst lernten und populärwissenschaftlichen Texten daher sprachlich nicht folgen könnten, inhaltlich aber durchaus. Ihr Traum sei ein Magazin mit anspruchsvollem Inhalt in verständlicher Sprache und mit Glossar zu jedem Artikel, in dem Fachworte in einfachem Deutsch erklärt werden.
Inger hatte sich dazugesetzt und betrachtete Helene.
Für dieses Magazin – wenn es denn je dazu komme, potenzielle Mitstreiter gebe es schon – würde sie die Texte entsprechend aufbereiten oder neu schreiben, erklärte Helene, und sie sei hier, um besser, frischer, flotter schreiben zu lernen. „Und assoziativer“, und bei „assozia“ sah sie die anderen an, bei „tiver“ hingegen wandte sie sich mit einer Art Augenaufschlag Inger zu. Konnte natürlich auch Zufall sein.
Inger war höchst beeindruckt von Helene. Was für ein interessanter Geist in diesem eher schlicht zurechtgemachten Kopf wohnte! Heute trug sie einen grauen Pullover, keinen Schmuck, nur einen Hauch von Make-up, dazu die schlichte Pagenfrisur, und trotzdem war sie eine anziehende Erscheinung. Das einfallslose Äußere war ein großer Gegensatz zu dem inneren Menschen.
Ausstrahlung hatte Inger, wie oberflächlich, fand er nun, ja doch immer mit Attraktivität verbunden, und ehrlich gesagt hatte er damit so manche Enttäuschung erlebt, wenn nämlich hinter der Fassade einer Schönheit plötzlich der Geist einer Dumpfbacke zum Vorschein gekommen war.
Die anderen trafen ein, suchten sich einen Platz oder betrachteten die Himmel-Bilder. Inger ließ sie eine kleine Weile gewähren, dann sprach er: „Noch mal guten Morgen alle zusammen. Bitte setzt euch.“ Und er deutete auf die Stühle.
Theobald nahm den Stuhl zwischen Helene und Babette. Inger – der ihm gegenüber saß – konnte sehen, wie die Gesichter der beiden Frauen etwa einen Atemzug später erstarrten. Hastig schauten sie nach den anderen Stühlen, aber es war zu spät.
Dankbar, dass er so weit weg saß, blickte Inger in die Runde.
„Ich habe für unseren zweiten Tag das Thema oder besser: das Ausgangsstichwort „Himmel“ gewählt. Der Himmel. Er kann blau oder grau sein, weiß gefleckt, rot, rosa, gelb. Schwarz. Eigentlich alles außer giftgrün. Er kann klar sein, trüb, voller Sterne. Wir sagen jetzt jeder und jede immer ein Wort, eine Assoziation, etwas, das uns zu Himmel einfällt oder aber zu einem der genannten Begriffe. Also zum Beispiel fällt mir zu Himmel die Farbe Blau ein, und dann könnte jemand von euch entweder zum Beispiel Grau sagen oder auch Blaumachen, oder man könnte bei Himmel neu ansetzen. Kapiert?“
Sie hatten kapiert, er las in den Gesichtern eine Mischung aus Erwartung, Spieltrieb und dem Ehrgeiz, das meiste und beste zu wissen.
„Ich fang mal an.“, sagte Inger. „Engel“. Und er schrieb das Wort Engel über das Wort Himmel auf dem Flipchart und verband die Wörter durch einen Strich. Neben ihm saß Franzi und sagte passend zu Ingers geflügelter Vorlage „Adler“.
Inger schrieb. „Soll ich es mit Himmel oder mit Engel verbinden?“, fragte er schelmisch.
„Mit Himmel“, sagte Franzi.
„Schtoäsch“, sagte Franz, der als Nächster dran war, und sah in die Runde, ha, das war originell.
Was um alles in der Welt sollte „Schtoäsch“ sein? Inger zögerte, das konnte er wohl kaum schreiben. „Entschuldigung, ich habe es nicht verstanden, könntest du …“
„En Schtoäsch“, wiederholte Franz.
Ratlose Gesichter, die anderen schienen auch nicht zu wissen, was das war, außer Franzi, die verdrehte die Augen und brummte was von „sehr einfallsreich!“.
Als Inger immer noch nicht schrieb, sagte Franz: „Ei de Vochel, de Schtoäsch, der wo die Kinner bringt.“
Storch. Oh Gott, Storch!! Inger schrieb das Wort neben Adler und verband die beiden Begriffe.
Auch dieser Einstieg am ersten „richtigen“ Kurstag hatte einen ganz speziellen Grund: Es war nicht nur gut fürs gesteuerte Ideensammeln, nein, die halb spontanen Assoziationen verrieten ihm auch sehr viel darüber, mit was für Menschen er es zu tun hatte. Franzi hatte, was das Schreiben und vermutlich überhaupt das Künstlerische anging, wenig eigene Inspiration, konnte aber über Starthilfen durchaus etwas entwickeln. Franz nicht, der konnte allenfalls variieren, nachahmen, von anderen schmarotzen, und damit das nicht so auffiel, machte er auf Komiker.
Nun war Babette dran. „Sonne, Mond und Sterne“, hauchte sie.
Sie war diejenige, die immer irgendwie anders und besonders sein musste. Und es waren ja streng genommen gleich drei Begriffe. Inger zögerte. Aber was soll’s, wenn es ihr halt so einfiel, in Gottes Namen, er wollte nicht schon am frühen Morgen mit einer Problematisierung beginnen, der Schtoäsch hatte bereits für eine Ablenkung der Gedankenflüsse gesorgt. So schrieb er Sonne, Mond und Sterne unter Himmel und zog einen Strich zu diesen Wörtern hin.
Theobald nannte den Begriff „Raumfahrt“. Das kam prompt. Theobald zählte zu den Menschen, die häufig abwesend wirkten und dann manchmal alle anderen mit ihrer Treffsicherheit verblüfften.
Helene sagte „Azzurro“. Kurzes Auflachen, jemand summte die Melodie an. Helene war für die heitere, charmante Note zuständig, und was Inger anging, traf sie damit voll ins Schwarze. Er lächelte und schrieb „Azzurro“ neben Himmel, dabei sprach er: „Azurblauer Himmel, ideal zum Schreiben im Freien.“
Und jetzt war Roland an der Reihe. Er schaute hilflos, hatte leicht gerötete Wangen und war sichtlich gestresst. So eine „Gesprächsrunde“, bei der jeder „mal musste“, unausweichlich, das hatte er vor diesem Kurs noch nie gemacht, oder höchstens ganz früher mal, im Konfirmandenunterricht. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. „Gott!“, sagte er.
Inger schrieb Gott auf das Flipchart. „Verbinde es mit Himmel und mit Engel“, sagte Roland und war sichtlich stolz.
Er würde vermutlich am meisten erleben. Er hatte noch nie „geschrieben“ und alles würde ihn überraschen, entzücken, aufwühlen. Obendrein war er wie ein großes Kind. Herrlich, fand Inger, und er freute sich auf Rolands Werke.
Nun fehlte noch Sieglinde. „Hölle“, sagte sie wie aus der Pistole geschossen und warf sich das Ende ihres leuchtend roten Schals über die Schulter. Sieglinde war hier die Dramatikerin, zumindest, was das Auftreten betraf.
Sie betrachteten ihr Werk.
„Jetzt lassen wir das ein wenig wirken, überlegen jeder und jede für sich noch weitere Assoziationen, hiervon ausgehend, betrachten die Bilder – ruhig aufstehen, zu den Bildern gehen, umherschweifen. Orts- und Positionswechsel sind immer wichtig. Ihr könnte auch spazieren gehen. Schweifen. Immer mal was notieren, und dann setzt ihr euch hin und schreibt drauflos. Aus eurer Beschäftigung mit dem Himmel und dem, was man damit näher oder weiter verbindet, wird, ihr werdet es sehen, ein kleiner Text entstehen. Eine Idee, eine Geschichte, ein Gedicht. Eine Anekdote, irgendwas. Bewertet nicht, was ihr schreibt, sondern schreibt drauflos. Wir setzen uns um zwölf Uhr wieder zusammen.“
Der Stuhlkreis begann, sich aufzulösen. Nur Roland blieb noch sitzen. Er sah wieder gehetzt aus, das war ja richtig aufregend. Hätte er nicht gedacht. Seine Arbeit und der aktuelle Auftrag rückten in den Hintergrund, erst mal das hier schaffen. Er fühlte sich wie in einer Prüfung, oder wie damals im Assessment-Center. Inger las in seinem Gesicht das Wort Stress wie auf einem Plakat und kam zu ihm.
„Setz dich nicht unter Druck. Es geht um nichts, nur für dich selbst um die Erfahrung, ein wenig über etwas nachzudenken und dann eine Idee für einen Text aus deiner inneren Tiefe hervorzuholen. Du lässt jetzt einen Eimer in den Brunnen hinab und wartest, dann ziehst du ihn irgendwann hoch und … nein, ein blödes Bild. Aber du weißt, was ich meine.“
Damit ging er wieder und überließ Roland sich selbst. Brunnen, Eimer, Tiefe – Roland war nicht sicher, ob er das verstand. Es erinnerte ihn an ein altes Gutshaus, einen Verkaufstermin, bei dem er, im Studium damals, als Praktikant dabei gewesen war. Im Hof war ein Brunnen gewesen, und dann hatte der Interessent …
„Schreib auf, was du jetzt gerade denkst“, rief Inger ihm zu, der sein Mienenspiel beobachtet hatte. „Egal, was es ist.“
Und Roland schaute erfreut, nahm Stift und Papier und begann, zu schreiben.
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